Beispiel an Molekularbiologie nehmen
Leserzuschrift im c't-Magazin N⁰ 16 / 2023, Seite 6
Antwort auf: Unternehmen, Politik und Gesellschaft ringen um kluge Regeln für KI's, ct 15/2023 S28
Vielleicht sollten sich die KI-Forscher an einem historischen Beispiel orientieren, der Molekularbiologie: 1970 wurden die ersten Restriktionsenzyme isoliert, 1971 wurden sie zum gezielten Schneiden von DNA benutzt. Damit gelang es dann 1973, synthetische Plasmmide herzustellen und in Bakterien einzuschleusen, das heißt, Bakterien genetisch zu verändern.
Wohl zum ersten Mal in der Geschichte stoppten alle beteiligten Forscher freiwillig für fast zwei Jahre ihre Arbeit, um im Februar 1975 im Asilomar State Beach Conference Center zusammen mit Anwälten und ärzten über ethische und Sicherheitsaspekte der Molekularbiologie zu diskutieren. Heraus kam ein Regelwerk für solche Arbeiten, das bewußt übervorsichtig war.
Als (zunächst freiwillige!) Regeln der Wißenschaft und Technik gingen sie später auch in dei Gesetzgebung ein. Im Laufe der Jahre, als mehr Wißen zur Verfügung stand, konnte man diese Regeln dann guten Gewißens lockern, aber im Prinzip gelten sie auch noch heute, ein halbes Jahrhundert später.
Ich halte es allemal für beßer, wenn Regeln für neue Technologien durch die beteiligten Fachleute erarbeitet werden, als wenn irgendwelche Ministerialbürokraten das am grünen Tisch tun. Und wenn alle Forscher, egal aus welchem Land, nach den gleiche Regeln arbeiten, kann das auch nur hilfreich sein. Und da ist Asilomar bis heute wegweisend. Dr. Engelbert Buxbaum
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Über eine Prüfstelle für Literatur, die unsensible Textstellen aufspürt
Harald Martenstein im Zeit-Magazin N⁰ 34 / 2019, Seite 6
Zeit Magazin - Nr. 34 - 15.8.2019 - Seite 6 - Kolumne • Harald Martenstein[Originalartikel Zeit - Magazin]Ein Leser hat mich auf die Literaturprüfstelle Sensitivity Reading aufmerksam gemacht. Sensitivity Reading checkt gegen Honorar deutschsprachige Texte auf „schädliche oder mißverständliche Darstellungen und Mikroaggreßionen”. Die Prüfer∗innen „besprechen mit den Autor∗innen die problematischen Aspekte und zeigen Alternativen auf”. Sie sind „meist Personen aus marginalisierten [in's Abseits abgeschobenen] Gruppen”. Leider prüfen sie Manuskripte „nicht auf Logikfehler im Plot und Stil”, obwohl Leute wie ich Logikfehler durchaus als Mikroaggreßion empfinden.
Mit Zensur habe dies nichts zu tun. Echt? Die Idee ist, daß Betroffene prüfen, ob ihre Gruppe in einem Roman so beschrieben wird, wie sie selbst es sich wünscht. Dies bedeutet, man kann‘s nicht oft genug sagen, das Ende der Literatur. In der Literatur spielt die Subjektivität des Autors, die recht speziell sein kann, eine tragende Rolle. Allein schon das negativ besetzte Wort „mißverständlich”! Gerade durch die Vieldeutigkeit werden Texte oft gut. Dm Himmel sei Dank, das Kafka nicht klarstellen mußte, welches Regime genau er in Der Prozeß beschreibt. Heute müßte er vielleicht im Vorwort beteuern, daß nicht die Grünen gemeint sind.
Lustigerweise haben sie mir, damals, als ich als Journalist anfing, die genau entgegengesetzte Vorgehensweise beigebracht. Da hieß es: ”Wenn Sie über eine Person schreiben, dann geben Sie ihr bloß nicht vor der Veröffentlichung das Manuskript zu lesen. Die Person wird verlangen, daß alles gestrichen wird, was ihrem Image schadet. Zeigen Sie dem Porträtierten nur deßen wörtliche Zitate.”
Was tun, wenn ein Marginalisierter selbst etwas Unvorteilhaftes über seinesgleichen erzählt? „Zu Recherchezwecken mit Betroffenen zu reden”, heißt es auf der Website, „stellt kein Sensitive Reading dar. In diesem Fall werden die Inhalte nicht ausreichend geprüft”, auf Gefälligkeit, was sonst. Man soll „problematische Klischees” und „Stereotype” vermeiden. Gestreßte Alleinerziehende, Politiker mit Alkoholproblem, Türken, die Döner säbeln, das sind Klischees, die sich manchmal aufdrängen. Man muß halt die „problematischen” herausfiltern.
Manche Sachen sind so kraß, daß sie nicht mal zur Prüfung zugelaßen werden. Autoren sollen „triggernde Inhalte” vorher benennen, damit die Prüfer∗innen „das Projekt vorsorglich ablehnen können”. Rike zum Beispiel, die sich unter anderem auf das Thema „Fatshaming” spezialisiert hat, lehnt „Erotica, Horror oder Thriller” komplett ab. Dicke Vampire, die Sex haben, tun ihr zu sehr weh. In den Tweets einer Prüferin habe ich sogar ein Bilderbuch meines Sohnes entdeckt, das zu unsensibel ist. Ein Bild darin zeigt eine Feuerwehrfrau, die, immerhin gemeinsam mit einem Kollegen, das Feuerwehrauto putzt. Putzende Frauen gehen nicht. Aber Feuerwehrleute tun das doch. In einem anderen Tweet regt sich Prüferin Victoria über ein Plakat auf, das einen Lehrer an der Tafel zeigt. „Ein weißer Typ soll meinen Kindern die Welt erklären? Näh.” Einstein geht auch nicht.
Nun könnte man einwenden, daß man sich dem Sensibilitäts-Check schließlich nicht unterwerfen muß. Ich aber sage: Ich bin ein Trendscout. Das ist der Trend. Irgendwo habe ich gelesen, daß in unserer Weltgegend die Hauptgefahr für die Freiheit nicht von Regierungen kommt. Der Ruf nach Zensur schallt aus der Gesellschaft. Etliche Gruppen ertragen es nicht, daß andere anders reden oder denken als sie. Und kaum jemand wagt es, sich ihnen entgegenzustellen, weil das alles in der Verkleidung einer höheren Moral daherkommt.
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Nichts zu verbergen?
Editorial ct 17/2015, erschienen am 25.07.2015[Originalartikel - ct]Amsterdam gilt seit jeher als Musterbeispiel gelungener Stadtplanung. Bereits 1851 begann die Stadt, systematisch Daten der Bevölkerung zu erheben, um optimal ihre Reßourcen zu verteilen. Fürs „Bevolkingsregister“ gaben die Einwohner bereitwillig Beziehungßtatus, Beruf und Religionszugehörigkeit an. 1936 stieg man sogar auf die Datenerfaßung mit einem hochmodernen Lochkartensystem um. 1939 aktualisierte eine Volkszählung das Stadtregister nochmals.
Im Mai 1940 rißen die einmarschierten deutschen Besatzer das Register an sich und ermittelten anhand dieses Datenschatzes in wenigen Tagen fast alle jüdischen Einwohner. Ein Großteil der rund 100 000 Amsterdamer Juden wurde ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Von einem Tag auf den anderen entschied ein Marker im Big-Data-Pool über Leben und Tod. Zuvor hatte 90 Jahre lang niemand etwas zu verbergen gehabt - schließlich diente die Erfaßung ja dem Wohl aller.
Und heute? Heute laßen wir uns von staatlichen Behörden, etwa der NSA und auch ihren Partnern wie dem deutschen BND, auf Schritt und Tritt überwachen. Diesen Übergriff nehmen wir fast widerstandslos hin, bewahrt er uns doch angeblich vor Terrorangriffen von islamischen Dschihad-Schergen. Willfährig blenden wir aus, daß alles, was über uns in den gigantischen, nie vergeßenden Datenbanken zu finden ist, eines Tages gegen uns verwendet werden kann.
Abgesehen davon: Wer glaubt, bei den datensaugenden Nachrichtendiensten handle es sich um monolithische, anonyme Gebilde, der irrt. Schließlich kennen wir die Tragweite der Überwachungsbemühungen erst, seit ein einzelner, angeblich gut durchleuchteter NSA-Mitarbeiter, Edward Snowden, seine politische Haltung geändert hat. Bei NSA, GCHQ und BND arbeiten tausende Menschen aus Fleisch und Blut. Snowden hat öffentlich dokumentiert, welche Daten er abgegriffen hat. Wie viele Zugriffe im Dunkeln paßieren, weiß niemand.
Ein Mitarbeiter könnte am finanziellen Abgrund stehen, erpreßbar sein und mal eben sämtliche Wohnorte von urlaubenden Superreichen herausfiltern. Ein anderer könnte pathologischer Stalker sein, der die Bewegungen seiner Angebeteten überwacht, um den paßenden Moment zum Zugriff zu finden. Beim BND sitzt vielleicht gerade ein unerkannter Neonazi am XKeyscore-Terminal der NSA, um Ziele für Brandanschläge gegen Flüchtlichsunterkünfte auszubaldowern.
Niemand weiß das. Überhaupt erfährt man viel zu wenig über all jene, die intimste Daten abschnorcheln, auswerten und für unbekannte Dauer speichern. Ganz zu schweigen von der Frage, wer womöglich in Zukunft zu diesen Daten Zugang bekommt. Deshalb sollte das Mantra jedes Bürgers lauten: „Ich habe eine Menge zu verbergen!“ Edward Snowden hat den weltweiten Überwachungsapparat schlaglichtartig beleuchtet. Das bietet die Chance zu verstehen, welche Methoden momentan zum Einsatz kommen. In den kommenden Ausgaben von c’t werden wir sie sortieren und verständlich machen, damit Sie, liebe Leserinnen und Leser, mehr wißen - und sich wehren können.
Holger Bleich
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Leserforum ct 18/2015 erschienen am 8.8.2015 • Die weitere Geschichte[Original - ct]
Ich kenne die weitere Geschichte der Lochkarten in den Niederlanden: Eben mit diesen Lochkarten wurden tausende ausländische Freiwillige aus den Niederlanden bei den deutschen Streitkräften ausfindig gemacht. Dieses geschah in wenigen Tagen nach der Befreiung im Herbst 1944. Die, derer man habhaft wurde, wurden mit dem Tode bestraft. Denn die Exilregierungen hatten in London ein Gesetz verabschiedet, nachdem jeder mit dem Tode bestraft wurde, der gegen die Sowjetunion kämpfte. Nur wußte aber niemand auf dem Kontinent von dem Gesetz, da die Regierung ja geflüchtet war.
Es wurden circa 1800 junge Männer und Familienväter in den Niederlanden hingerichtet. Die wollten eigentlich auch nur nach Hause und waren froh, den ganzen Schlamaßel überlebt zu haben. Als das bekannt wurde, sind viele Niederländer 1945 in Norddeutschland bei Bauern untergetaucht. Sie wurden dort seßhaft, und die Mehrheit ist für immer hier geblieben. Auslieferungsanträge von den Niederlanden wurden von Deutschland und Spanien in den 1950ern und 1960ern (viele haben sich zu Fuß durch Frankreich bis nach Spanien durchgeschlagen) nicht beantwortet. Bei den Todesurteilen wurde nicht differenziert, hingerichtet wurden auch minderjährige Freiwillige sowie Frauen, die freiwillig Dienst taten.
Ulf Schlumbohm
Zur Lochkartenerfaßung[Original - ct]
Für weitere Informationen, die sich auf den ersten Absatz beziehen und Sie intereßieren könnten, empfehle ich das Buch von
Edwin Black: „IBM und der Holocaust“.
Harri Drechshage
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Wie jetzt? Die Gedanken schweifen laßen?
Die Zeit - Wißen - 26. März 2015 - Nr. 13 - Seite 38[Originalartikel - Die Zeit]Das Smartphone als Dauerunterhalter verhindert einen hochproduktiven Geisteszustand: Die Langeweile
von Christoph Drößer
Endlose Ferienwochen, in den en man stundenlang herumsaß und nichts mit sich anzufangen wußte - an so etwas erinnern sich heute höchstens noch die über 30-Jährigen. Für alle Jüngeren wird Langeweile zunehmend zu einem unbekannten Geisteszustand. Schließlich trägt man doch ständig ein Handy in der Tasche - und wenn nichts los ist, zieht man es reflexhaft heraus und checkt WhatsApp, liest Facebook oder spielt Angry Birds. So wird Langeweile abgeschafft. Das klingt erst einmal gut - aber es verhindert einen wichtigen Betriebsmodus unseres Gehirns.
Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov ziehen 44 Prozent aller Deutschen automatisch ihr Mobiltelefon aus der Tasche, wenn sie nichts weiter zu tun haben, weil sie zum Beispiel auf den Bus warten. Bei den 18- bis 24-Jährigen sind es sogar 73 Prozent. Wer das tut, richtet seine Aufmerksamkeit nach außen, obwohl sich ihm eine gute Gelegenheit bietet, sie nach innen zu wenden. „Diese beiden Formen der Aufmerksamkeit funktionieren wie ein Schalter“, schrieb der Psychologe Daniel Willingham von der University of Virginia kürzlich in der New York Times. „Wenn die eine eingeschaltet ist, dann ist die andere ausgeschaltet.“ Handys machen uns nicht dumm, so seine These, sondern sie stillen unseren „Appetit auf endlose Unterhaltung“. Die Folge: Auszeiten fürs Gehirn schwinden - und damit die Gelegenheit für Geistesblitze.
Denn gerade in den Phasen des ungerichteten Denkens sehen Psychologen eine Quelle der Kreativität. Viele Menschen erzählen, daß ihnen die besten Ideen bei Routinetätigkeitenkommen - beim Duschen, beim Autofahren, beim Aus-dem-Fenster-Gucken im Zug. Wer nicht gerade ein Zen-Mönch ist, der kann nicht verhindern, daß in diesen Situationen das Gehirn unentwegt Ideen fabriziert. Das können sehr produktive Gedankenschleifen sein, die sich immer wieder um die gestrige Konfrontation mit dem Chef drehen - aber eben auch Gedankenblitze, die ein lang hin und her gewälztes Problem plötzlich lösen.
„Ich habe irgendwann festgestellt, daß ich mich seit sieben Jahren nicht gelangweilt habe“, sagt Manoush Zomorodi, eine Journalistin, die beim New Yorker Radiosender WNYC ein Technik-Blog betreibt. „Seit dem Tag, an dem ich ein Smartphone bekommen habe.“ Auch ihre beiden Kinder begännen sofort nach Mamas Telefon zu betteln, wenn Langeweile auch nur drohe. „Und ich schäme mich, zuzugeben, daß ich es ihnen oft gebe.“
Zomorodi entwickelte einen Sechs-Stufen-Plan, um diesen Handy-Reflex einzudämmen. Im Februar forderte sie ihre Hörer eine Woche lang jeden Tag zu einer neuen übung auf.
Am ersten Tag sollten sie das Telefon in der Tasche laßen, wenn sie sich von A nach B bewegten.
Tag 2: Keine Handy-Fotos!
Tag 3: Ein besonders häufig genutzte App löschen!
Tag 4: Weder E-Mails noch Soziale Netzwerke checken!
Tag 5: Bewußt nach kleinen Beobachtungen suchen, die beim steten Blick aufs Handy entgangen wären! Und schließlich,
am letzten Tag: „Setze einen ordentlich gefüllten Topf Waßer auf den Herd und schaue dabei zu, wie es zum Kochen kommt.“
Klingt banal? Viele der 19 000 Teilnehmer berichteten von befreienden Erfahrungen. Vor allem wurde ihnen bewußt, wie sehr sie mit ihrem Smartphone bereits verwachsen waren. „Es gibt Tage, da erwische ich mich dabei, daß ich das Handy nur in der Hand halte, ohne offensichtlichen Grund“, kommentierte eine Teilnehmerin. „Als wäre es eine Schmusedecke.“ Ein anderer pflichtete ihr bei: „Ein Schnuller für die Hand.“
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Über gefährliche Witze
Zeit Magazin - Nr. 29 - 4.8.2015 - Seite 6 - Kolumne • Harald Martenstein[Originalartikel Zeit - Magazin]In England und in den USA gibt es die schöne Tradition, Reden mit Scherzen zu würzen. Die Scherze dürfen ruhig frech und ein wenig anzüglich sein. Als der Nobelpreisträger Sir Tim Hunt in Südkorea vor jungen Wißenschaftlerinnen gesprochen hat, begann er so: „Es ist seltsam, daß ein chauvinistisches Monster wie ich gefragt wurde, vor Wißenschaftlerinnen zu sprechen. Laßen Sie mich von meinen Problemen mit Frauen erzählen. Drei Dinge paßieren, wenn sie im Labor sind: Du verliebst dich in sie, sie verlieben sich in dich, und wenn du sie kritisierst, fangen sie an zu heulen. Vielleicht sollten wir getrennte Labore für Männer und Frauen einrichten? Spaß beiseite, ich bin beeindruckt von der wirtschaftlichen Entwicklung Koreas. Und Wißenschaftlerinnen spielen dabei zweifellos eine wichtige Rolle. Wißenschaft braucht Frauen, und Sie sollten Wißenschaft betreiben trotz all der Hinderniße und trotz solcher Monster wie mir.“
Daraufhin brach ein Shitstorm los, wegen Sexismus. Hunt wurde gezwungen, als Profeßor zurückzutreten, auch aus der Royal Society wurde er ausgestoßen. Es hat ihm nichts genützt, daß er sich entschuldigt hat. Als der Londoner Bürgermeister Boris Johnson sich vor ihn stellte und den „unerbittlichen Moloch politische Korrektheit“ anprangerte, wurde auch Johnson sofort bedroht. Eine Abgeordnete sagte: „Johnson macht sich schuldig im Sinne des Antidiskriminierungsgesetzes.“ Hunt arbeitete übrigens in der Zellforschung, seine Forschnungsergebniße retten vielleicht Tausenden von krebskranken Frauen das Leben. Jetzt ist er erledigt, Berufsverbot, und kann niemanden mehr retten.
Mich wundert, daß keiner die Parallelen zwischen diesem Fall und den Anschlägen auf Charlie Hebdo gesehen hat. Natürlich ist es ein Unterschied, ob man Leute erschießt oder man sie nur beruflich vernichtet. Aber in beiden Fällen geht es darum, daß Menschen es nicht ertagen, wenn über etwas Scherze gemacht wird, das sie für unantastbar halten. Und in beiden Fällen wird mit äußerster Unbarmherzigkeit vorgegangen, um ein Klima der Angst zu schaffen. Und die Akteure sind nicht „der Islam“ oder „der“ Feminismus, sondern radikale Gruppen.
Nein, noch deutlicher ist vielleicht die Parallele zum Amerika der McCarthy-Ära, als auf alles Linke eine Hexenjagd veranstaltet wurde und als jeder zum Kommunisten gestempelt wurde, der sich mit einem Buch von Bert Brecht erwischen ließ. Warum gibt es gegen eine so offensichtliche Ungerechtigkeit wie im Fall Hunt in den Medien keinen sogenannten Aufschrei? Der Fall berührt ja den Kern unseres Berufes, die Freiheit des Wortes. Und dabei speilt es keine Rolle, ob man den Scherz von Hunt für dumm oder mißlungen hält. Man kann nicht sagen, in Zukunft sind nur noch gute Witze erlaubt, schlechte sind verboten. Wenn falsche Meinungen oder falsche Witze in Zukunft den sofortigen Jobverlust zur Folge haben, dann gibt es für freie Medien keine Basis mehr.
In der wird über die Glaubwürdigkeitskrise der Medien diskutiert. Ich glaube, diese Krise hängt auch mit solchen Fällen zusammen. Wenn wieder mal ein Shitstorm tobt, dann heulen zu viele von uns mit den Wölfen, statt den Bedrängten beizustehen, unabhängig davon, ob man ihre Ansicht teilt oder nicht. Wir verteidigen unsere Werte nicht, wir haben die Hosen voll, aber ich vermute, daß die meisten unserer Leserinnen und Leser etwas mehr Mut von uns erwarten. Der Forscher Hunt, dem die Menschheit manches verdankt, ist erledigt. Wer ist der oder die Nächste?
Harald Martenstein ist Redakteur des „Tageßpiegels“
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„Ich bin erledigt“
Spiegel Online Panorama; Sonntag, 14.6.2015 - 18:25[zur Originalmeldung - Spiegel Online]Sexismus-Vorwürfe gegen Nobelpreisträger Hunt
In einem Interview hat sich Nobelpreisträger Tim Hunt darüber beschwert, wie sein Arbeitgeber ihn nach dem Skandal um sexistischen Äußerungen behandelt hat. „Sie haben mich im Stich gelaßen“, sagte der 72-Jährige der britischen Zeitung „The Observer“. Ihm sei nahegelegt worden, seinen Job zu kündigen - dabei habe ihn niemand nach seiner Version der Geschichte gefragt. Er habe keine Chance gehabt, sich zu erklären.
Hunt hatte auf einer Konferenz von Wißenschaftsjournalistinnen in Seoul getrennte Labore für Frauen und Männer vorgeschlagen. Denn, so der Wißenschaftler: „Drei Dinge paßieren, wenn sie im Labor sind: Du verliebst dich in sie, sie verlieben sich in dich, und wenn du sie kritisierst, fangen sie an zu heulen.“ Es folgte heftige Kritik und Hunt trat von seinem Posten als Honorarprofeßor am University College London (UCL) zurück. Man sei überzeugt, daß dieser Schritt dem Engagement der Universität für Gleichberechtigung entspreche, hieß es damals in einer Erklärung der UCL.
In dem Interview mit dem „Oberserver“ stellte Hunt nun klar: Der Rücktritt war nicht seine Idee. Noch während er im Flugzeug von Seoul nach England war, sei seine Frau Mary Collins zur Uni-Leitung gerufen worden, auch sie arbeitet an der UCL. „Mir wurde mitgeteilt, daß Tim sofort kündigen solle, oder er werde entlaßen“, sagte Collins. Kurz nachdem Hunt daheim angekommen sei, habe er dann per E-Mail seinen Rücktritt eingereicht. Das Verhalten der Uni habe ihr und ihrem Ehemann sehr geschadet. „Was sie getan haben, ist unverzeihlich“, sagte Collins.
Ihr Mann sei ganz sicher kein alter Dinosaurier. „Er sagt nur ab und zu dumme Sachen.“ Hunt selbst bezeichnete seine Äußerungen als Fehler. Sie seien scherzhaft und ironisch gemeint gewesen. Doch sie hätten seine Zukunft in der Wißenschaft beendet. „Ich bin erledigt.“
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